Maria Regina by Hahn-Hahn Ida Gräfin von
Autor:Hahn-Hahn, Ida Gräfin von
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-03T05:00:00+00:00
Zweiter Band
Die Villa Diodati
Es war ein herrlicher Oktober. Dieser Monat ist der schönste am Genfersee, ist so sommermäßig, daß die Abende sogar noch warm sind, und verbindet damit die Vorzüge des Herbstes: gleichmäßige Witterung, klare Luft und einen unvergleichlichen Schmelz der Farben auf dem Gebirg und dem See. Die Villa Diodati, berühmt durch den Aufenthalt, den einst Lord Byron dort machte, liegt auf dem Ufer von Savoyen, eine Stunde von Genf, in einem terrassierten Garten, unmittelbar am See, der seinen strahlenden Spiegel wie eine lichtblaue, mit Goldfunken durchblitzte Emaille vor ihr ausbreitet. Auf dem entgegengesetzten Ufer steigen die Rebgelände des Waadtlandes auf, unterbrochen von Schluchten und Hügeln mit reicher Bebaumung und übersäet mit Städten, Dörfern, einzelnen Schlössern und Campagnen. Im Osten schließt das Hochgebirge des Walliserlandes den See ab, schickt ihm aber aus den gewaltigen Gletschern am Fuße der Grimsel und Furka die reißende Rhone zu, die im Westen, bei Genf, an dem Becken des See's im ungeduldigen Jugendmut herausbricht und sich ihre eigenen Wege sucht, hinab zur Küste des mittelländischen Meeres. Die Krone des See's und der ganzen Landschaft ist der gewaltige Montblanc; er liegt da wie ein weißer Marmorblock in einem Blumengarten.
Es war gegen Abend; die Sonne sank und zog einen rosenfarbenen Schleier über alle Berge, während der ewige Schnee des Montblanc im feurigsten Rosenlicht aufflammte. Mitten auf dem See, da, wo man die volle Ansicht des Montblanc hat, schwamm eine Barke, leise gewiegt von den rieselnden Wellen, denn die Schiffer hatten die Ruder eingezogen. In der Barke saßen einige Männer und eine Frau. Sie hatte sich in einen weißen Burnus eingewickelt, der ihre hohe schlanke Gestalt hervorhob, nicht verhüllte, und dessen Kapuze über den Kopf gezogen. Sie blickte mit ihrem ernsten schwarzen Auge unverwandt auf den Montblanc und kümmerte sich nicht im mindesten um die Herren und ihre Gespräche. Zwei dieser Herren waren übrigens ebenso schweigsam wie die Dame, obschon sie nicht, gleich ihr, in den Anblick des zauberhaften Naturgemäldes versunken waren. Endlich sagte der eine zu ihr:
»Signora Giuditta!« – aber er mußte es wiederholen, bevor sie die Kapuze ein wenig zurückschob und, ohne nach ihm umzublicken, sagte:
»Was wünschen Sie, Graf Orestes?«
»Sie zu hören, da Sie uns das Glück nicht gönnen, Ihr Antlitz zu schauen.«
Als ob diese Aufforderung ihrer Stimmung einen Ausdruck gegeben hätte, begann Judith sogleich jenes Lied vom Wanderer zu singen, das durch Schuberts Komposition so berühmt geworden ist: »Ich komme vom Gebirge her – Es ruht das Tal, es rauscht das Meer.« Sie sang alle Strophen durch. Kein Atemzug war in der Barke zu hören; auch die Schiffer lauschten. Als sie zu Ende war, blieb alles still.
»Hat Ihnen das Lied nicht gefallen, Graf Orestes, oder klingt meine Stimme tonlos über der Tiefe?« fragte Judith.
»Das Lied ist so fürchterlich melancholisch, daß man davon angesteckt wird,« entgegnete er.
»Ein deutsches Lied!« antwortete sie mit leichtem Achselzucken.
»Ganz recht, Signora!« rief der zweite der schweigsamen Männer; »ein deutsches Lied – das muß melancholisch sein! Deutschland hat nicht genug Stimmen, um zu weinen und zu klagen über seinen tiefen Verfall.«
»Warum ziehen Sie es nicht empor – Sie und Ihre Gleichgesinnten?« fragte Judith kalt.
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